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Cocktailbar Stammheim, Sunlun, Ärger Now!, Loser Youth, 29.05.2015 in Düsseldorf, AK47 - Bericht von tenpints

Cocktailbar Stammheim, 29.05.2015 in Düsseldorf

Vor zehn Jahren habe ich sie noch mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung betrachtet: Menschen, die älter sind als ich und alleine auf Konzert. Nun bin ich selber so einer. Interessante Erfahrung. Themen für den heutigen Tag also: Wehmut, Nostalgie, Älterwerden, Cocktailbar Stammheim.
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Zum Thema Wehmut passt das Thema Heimat. Wir befinden uns mitten in der Deutschen Romantik, die hat ja auch in der Punk/Hardcore-Szene wieder Konjunktur, im Gegensatz allerdings zu Hack, das mag nun wirklich niemand. Manchmal stehe ich an der Kasse zwischen Menschen, die Sachen kaufen, die so fern meiner Lebensrealität sind, dass ich tatsächlich noch erstaunt bin.
Da ich alleine reise und Urlaub habe, beschließe ich, am Nachmittag zu fahren, um einen Spaziergang durch meine Geburtsstadt Düsseldorf zu machen. Das Viertel, in dem ich als Kindergartenkind gelebt habe, erzeugt tatsächlich Gefühlsregungen in mir - die Pizzeria, in der ich mir auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause immer gratis Pizzabrötchen abgeholt hab, sieht z.B. noch genauso aus, und vor ihr steht ein gemütlich aussehender Pizzabäcker und lächelt. Bestimmt der von damals!
Mann, bin ich bescheuert. Der Rhein hingegen ist cool. Teures Altbier ist auch eine Bank, ich trinke es bei stürmischem Wind am Wasser, bisher ein top Urlaubstag. Wieso fahren andere bloß immer so weit weg? Oder bleiben immer zuhause?
Nochwas zum Thema Hack.
Die riesige Luxus-Pizzeria an der Ecke Fichten-/Kiefernstraße weiß, wie man Werbung macht. Trotzdem ist sie leer, schade. Neben mir rasen zwei Kinder ohne jeden Schutz auf ihren Fahrrädern eine lange Abfahrt zum Supermarkt runter, und ein Punk-Papa sagt seinem ca. vierjährigen Sohn, der auf einer 3-Meter-Brüstung steht und den beiden zuguckt, nur "pass auf" und geht weg. Hier ist die Welt noch in Ordnung, ich platze gleich vor Rührung!
Vor dem Konzert noch schnell "Heinz Strunk in Afrika" fast zu Ende gelesen, zum zweiten Mal - Vorteil Alleinreisen -, das Buch haut mich erneut komplett vom Hocker, Tragikomik in Perfektion. Hoffentlich gelingt mir auch mal so ein großer Wurf; hab ja noch Zeit, Strunk war 53, als er es veröffentlicht hat. Wobei, erstmal so alt werden, leicht ist das nicht. Vor mir spielt der Kleine von vorhin auf der Mini-Halfpipe, hinter mir durch die Wand des AK47 höre ich die Probe des Loser-Youth-Provisoriums; die hatten eigentlich abgesagt, aber jetzt sind sie teilweise da und spielen vier Lieder. Es ist alles sehr schön.
Die Band "Schwach" musste komplett absagen, für sie spielen Ärger Now! aus Solingen. Zwei Gitarren, ein Schlagzeug, Wollmütze und zu kurzer Gitarrengurt. Aber egal. Ich bin tolerant und immer noch schwer gerührt und wieder mal sehr angetan vom Flair der Kiefernstraße.
In den Massenmedien, auch in den kleineren, hipperen, liest man ja immer mal wieder was über Punk. Dass er fast tot sei, aber dann wieder doch nicht, dass Bands wie Turbostaat und Adam Angst ihn retten würden usw. Alles QUATSCH! Punk lebt wie eh und je, man muss ihn nur wahrnehmen.
Ärger Now machen sehr unterhaltsamen Garagenpunk. Die Reise hat sich schon gelohnt. Allerdings leisten sie sich einen Faux-Pas, als sie allen Ernstes fragen, ob das Gyros, was es vor der Tür zu kaufen gibt, Fleisch ist! Fleisch ist out, soviel hat sich dann immerhin doch geändert in der Punk-Szene.
Auf der Bühne liegt ein Ast.
"Als Teil der Show" die Brille abgenommen hat der Sänger, und außerdem sagt er jedes Lied mit "Jetzt kommt ein HIT!" an. Ich liebe ihn.
Dann spielen Sunlun, keine Ahnung, wieso, mit Punk hat das herzlich wenig zu tun. Wenn sie wenigstens bärtige Kanten mit drei Meter langen Haaren wären!
Thema deutsche Romantik, ich hatte es ja schon angesprochen: Immer mehr Hardcore-Bands fühlen sich angezogen von Misanthropie, Weltschmerz, Waldeinsamkeit usw. Das ist zumindest mein Eindruck. Fällt mir nur ein, weil die halt Black-Metal-Crust spielen und er ne Triskele auf dem Arm hat.
Gut, dass am zweiten Tag des Raccoone-Records-Labelfests (so heißt die Veranstaltung nämlich) ein Vortrag über reaktionäre Inhalte im Hardcore stattfinden soll, haha. Wobei laut Ankündigungstext damit wohl eher andere Inhalte gemeint sind, schade eigentlich. Das sollte dringend mal reflektiert werden!
Ich habe Geduld und setze mich nach draußen. Alle scheinen sich hier zu kennen, nur ich kenne kein Schwein. Dann fängt es an zu regnen. Alle gehen rein, es ist zu eng, Sunlun fragen sich, warum sie plötzlich Zuschauer haben. Irgendwann ist das musikalisch gar nicht mal so schlechte Elend dann aber auch vorbei, und Cocktailbar Stammheim betreten die Bühne.
Es ist ein großes Glück, denn so langsam fordern zahlreiche Liter Bier und noch mehr Fuß-Kilometer dann doch ihren Tribut, und ich möchte ins Bett. Der Sänger der Cocktailbar vermutlich auch, denn er ist ein bisschen krank. Schnell entferne ich mich aus der ersten Reihe!
Meine Verehrung für dieses Duo kennt kein Maß und erreicht heute neue Höhen. Trockener Humor vor und zwischen den Liedern - ich muss tatsächlich mehrmals laut lachen -, ein Charisma von hier bis nach Hamburg: Hier steht jemand, der mindestens die tragikomische Qualität eines Heinz Strunk hat. Großartig!
Leider kann ich die Witze nicht widergeben, da ich sie fast alle vergessen habe. Aber käme ja eh nicht so gut rüber.
Anfangs denke ich noch, dass die Erkältung seiner Stimme nicht wirklich gut getan hat, aber dann ist es eigentlich egal und gut, denn so leicht zurückgefahren wirken die Lieder noch eine Spur melancholischer.
Schließlich fallen die Hüllen, und er fragt, ob seine Frisur Berlin ist. Ne, nur Potsdam, kommt's aus dem Publikum. Na ja, hab ja gesagt, muss man live sehen, dann ist's lustig.
Kollege Schoko meinte gestern, die Cocktailbar klinge wie Musik, die Erstklässler machen. Meines Wissens nach machen Erstklässler aber keine tieftraurigen Lieder mit genialem Moll-Geschrammel und hemmungslos ehrlichen Texten über das Dasein als wütender kaputter Mensch. Kann mich aber auch irren, kenne nicht so viele!
Egal, es sind ja genug Punks im Publikum, die die Band so feiern wie ich. Am Ende gibt's "Ein Meter Platz", und ich platze zwar nicht vor Rührung, bin aber kurz davor.
Gespielt werden auch neue Lieder vom Album, das Cocktailbar Stammheim in zwei Wochen aufnehmen werden! Es sind noch traurigere Lieder, zünden sofort. Auf das mit dem Love-A-Zitat ("Du hast keine Ahnung, wofür mein Herz schlägt!") freue ich mich besonders. Klingt auch ein bisschen wie Turbostaat auf Lo-Fi, irgendwie. Die habe ich übrigens neulich in einem Anfall geistiger Umnachtung auf dem Werden Open-Air gesehen, ein entwürdigender Anblick war das, denn die machen ja immer noch gute Musik, fordern aber alle paar Minuten zum Mitklatschen und -singen auf und so. Das wird Cocktailbar Stammheim wohl nie passieren, auch wenn der Sänger seine Anti-Mitsing-Haltung erklärtermaßen aufgegeben hat.
Solange es solche Bands gibt, solange ist die Welt noch nicht verloren, und solange werde ich in solche Läden gehen, notfalls auch im Rollstuhl, jawohl.
Auf Notgemeinschaft Peter Pan muss ich dann verzichten, pack ich nicht mehr, allerdings ist Cocktailbar Stammheim auch der ideale Abschluss für den Tag. OBWOHL: Ich hab noch fünfzehn Seiten Heinz Strunk vor mir, und mit besoffenem Kopf alleine im Zug liest der sich besonders gut. Das Leben ist schön, wenn man solche Sachen erleben kann. Bis demnächst!

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