Es könnte durchaus argumentiert werden, dass das sechste Album einer Band jetzt nicht das aufregendste sein wird/kann, aber Kettcar haben sich mit dem letzten großartigen Album "Ich vs. Wir" ja schon ein wenig (mehr) neu erfunden (sagt auch Gitarrist Erik im aktuellen Pop, Punk und Politik Podcast) und auf einmal waren sie 2017 wieder da, wo sie 2001 mit "Du und wieviel von deinen Freunden" mal angefangen haben - damals textlich tendenziell mehr befindlichkeitsfixiert, doch seitdem politisch, kritisch und durchaus angenehm zynisch, dass die eigene Nase doch des öfteren angefasst werden muss. Und so beginnt die neue Platte "Gute Laune, ungerecht verteilt" konsequent mit den Textzeilen:

Mittelmeer, Massengrab, so traurig hier, zynisch da
First-defense-Konferenzen, Zäune bauen, hoch die Grenzen
Kleingeister verachten, Bilder abgestumpft betrachten
Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot
(Auch für mich 6. Stunde)

Nein, Kettcar sparen wie auf der letzten Platte nicht mit wütenden zynischen Kommentaren zu unserem Alltag da draußen - sei es das Sterben von geflüchteten Menschen im Mittelmeer und das schweigende Hinnehmen der Mehrheitsgesellschaft oder der Alltagsrassimus, den PoCs in Deutschland jeden Tag erleben, wie in der ersten Single-Auskopplung München aus eben jener Perspektive besungen wird. Kettcars Bandmitglieder sind ältere weiße Männer, aber sie machen es der eigenen Fanbase nicht einfach und verteilen keine popmusikalische Absolutionen an die Hörenden:

Ich guckte dich an und sagte:
„Wir sind uns so ähnlich, wir sind uns so gleich“
Und du sagtest zu mir:
„Ja, das sind wir - aber wir sind es nicht hier!“
(München)

Kettcar-Platten ohne Kettcar-Songs wie "Rügen", wo für mich die Geschichte zu "Die Ausfahrt zum Haus deiner Eltern" (Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen) oder "Graceland" (Sylt) weitererzählt wird, ohne grüblerische Beziehungstexte, ohne die sozialkritischen Geschichten über Paketzusteller*innen und Pfleger*innen, ohne dass eine Star-Trek-Referenz eingebaut wird, sind zum Glück nicht denkbar und wir werden (diensbezüglich) nie enttäuscht werden, denke ich.
Und eine Kettcar-Platte kommt mit Kettcar-Pop-Songs: mal mit dem Pedal durchgetreten zum Hit-Refrain und mal mit dem vertrackten gewöhnungsbedürftigen Beat und seltsamen C-Part und natürlich den Spoken-Word-Parts, die seit MWs Solo-Album nicht mehr (auch) aus dem Kettcar-Kontext wegzudenken sind.

"Gute Laune, ungerecht verteilt" ist ein super Album. Es ist kein zweites "Ich vs. Wir", die für Erik (siehe Podcast) und mich die perfekte Kettcar-Platte ist, aber sie tritt musikalisch und textlich mit viel Würde und Eleganz in deren Fußstapfen und bei jedem Mal hören mehr, entdecke ich die Textzeile, die tattoogeeignet ist oder die mich darüber nachdenken lässt, ob ich Dinge vielleicht anders sehen und machen sollte! Das ist Kunst mindestens in 1000 Jahren und dafür ist diese Band der lebende Beweis!